3. Erinnerungen an das Kriegsende
Erinnerungen einer Zeitzeugin:
>>Am Tag, als die Festung Breslau fiel, kam unser Gehilfe nachmittags
angelaufen mit dem Ruf: "Ei achtundverzig Stunda muuß das Dorf
geräumt sein, die Russa kumma!" Er hatte beim Pförtner
der Fabrik den Anschlag gelesen. Mir versetzte es einen Schlag in die
Magengrube, und zunächst war ich unfähig, irgendetwas zu tun,
während meine Schwester Anneliese fieberhaft anfing zu packen. Vater
setzte sich mit allen möglichen Leuten in Verbindung und erhielt
den Bescheid, daß unser Bürgermeister gesagt hätte, er
schickte seine Leute nicht auf die Straße, sondern überläßt
jedem die eigene Entscheidung zu gehen oder dazubleiben. Wir trafen mit
der Familie H. die Vereinbarung, zusammen wegzugehen. Vater war es um
uns beiden Mädel zu tun, und bei der Familie H. waren es die vier
erwachsenen Töchter und die zehnjährige Käthel, sowie die
Schwiegertochter mit zwei Kleinkindern, die sie diesen Entschluß
fassen ließ.
Am Montag nachmittag rief dann Else H. an: "Lottel, wir gehen los,
der Russe ist schon in Heinrichau, den Bürgermeister sollen sie schon
erschossen haben". So zuckelten wir also mit unserem Wägelchen,
mit dem wir sonst die Lorbeerbäume zum Dekorieren transportiert hatten,
bis zur Lachmann-Ecke, bei der kath. Kirche haben wir dann gewartet. Während
wir dort standen, sahen wir Frau K. in der Tür der Apotheke stehen,
die dort weinend dem Auszug der Flüchtenden zusah. Mein Vater ging
zu ihr und redete ihr zu, doch auch mit wegzugehen, aber die Familie hatte
beschlossen zu bleiben. Noch heute sehe ich die weinende Frau vor mir
und bedauerte es zutiefst, daß wir sie nicht zum Weggehen bewegen
konnten (aus Angst vor den Russen hatten sich dann ihr Mann und sie in
der Nacht zum 8. Mai das Leben genommen, Anm. d. Red.). Inzwischen kamen
auch H. mit zwei Gespannen, eines mit zwei Pferden und das andere mit
einem Pferd und dem Ochsen bespannt. An diesen Wagen hängten wir
nun unser Gefährt und daran hing der Fahrradanhänger, in dem
Hannchen H. ihre beiden Kleinen transportierte. Unendlich langsam bewegte
sich der Zug talwärts, immer mehr Gespanne und Handwägelchen
schlossen sich an oder schoben sich dazwischen, so daß der Zug in
Richtung Tannhausen schon sehr angewachsen war. Es ging langsamer, die
Pausen, in denen wir stillstanden, wurden immer länger. Der Abend
schritt immer weiter vor. In Wüstegiersdorf sind wir durch eine dicke
Schicht Zucker gewatet, dort war ein Lager geöffnet und alles auf
die Straße geschüttet worden; und wir hatten monatelang keine
Zuteilung bekommen. Einfügen möchte ich hier noch, daß
nach Bekanntgabe der Meldung der Bittner-Bäcker mit dem noch vorhandenen
Mehlvorrat gebacken hat, was das Zeug hielt und wir uns alle noch Brot
holen konnten, ohne die übliche Abgabe von Lebensmittelmarken.
Allmählich wurde es auf unserem Marsch ins Ungewisse auch Nacht,
und wir rückten immer nur schrittweise vorwärts. Mit grimmigem
Humor haben wir dazu gesagt:
"Achtung! Zehn Zentimeter vom Feind absetzen!" Als gar nichts
mehr ging, entschlossen sich die Erwachsenen, uns Mädel vorauszuschicken,
in Ober-Wüstegiersdorf wohnten Verwandte, bei denen wir uns treffen
wollten, wenn sie mit den Gespannen nachkamen. Zu den Staus war es vor
allen Dingen gekommen, weil viele Soldaten noch versuchten, mit Gespannen
in die Tschechei zu fliehen; weil sie aber auch nicht vorankamen, spannten
sie die Pferde aus, ließen die Wagen stehen und ritten mit den Pferden
Richtung Johannisberg. So haben wir uns, meine Schwester und ich, Hannchen
H. mit den Kleinen, und den beiden Jüngsten von H. durch das Gewirr
von Gespannen durchgewurstelt, bis wir in der Nähe der Rumpelmühle
bei den Verwandten ankamen, das war gegen vier Uhr morgens, etwa elf Stunden
für ca. 15 km. Dann begann das Warten. Es liefen auch die Gerüchte
um, die Russen haben den Treck schon mit Panzern überrollt, es käme
niemand mehr bis hier herauf. Der Morgen graute, es wurde sechs Uhr, da
erreichten die ersten den Hof. Das Gefühl wiederzugeben, das ich
während der Wartezeit hatte, als die schon Totgeglaubten dann doch
eintrafen, bin ich nicht imstande. Der Hof wimmelte von Flüchtlingen,
bis dahin hatten wir auch noch keinen Russen gesehen. Am Vormittag haben
wir versucht, im Stall auf Stroh ein wenig zu schlafen, aber das gelang
uns nicht. Mittags hat uns die S.-Else (Tochter aus dem Hanke-Gut bei
uns) noch Klöße mit Blaubeeren gekocht, und wir waren gerade
am Essen, als der erste Russe ins Haus kam. Mit der MP im Anschlag verlangte
er: "Uhri-Uhri!" worauf ihm mein Vater seine Armbanduhr aushändigte.
Draußen zogen auf der Straße die Panje-Wägelchen vorbei.
Wo die alle herkamen, weiß ich nicht, die purzelten aus allen Waldecken
hervor. Ein Flüchtling, der sich den Vorbeizug von der Hofmitte aus
ansah, wurde unsaft von einem Russen angefaßt, der ihm sofort die
Lederjacke auszog und damit verschwand. Fassungslos kam er in die Küche:
"Mensch, der hat mir eben meine Jacke geklaut, mit sämtlichen
Papieren und Geld drin". Mein Vater sagte nur: "Wenn du dich
draußen auch so dußlig zur Parade hinstellst, kannst du auch
nichts anderes erwarten". - Wir hatten anfangs vorgehabt, über
den Johannisberg in die Tscheche! zu flüchten, aber Herr H. wollte
nicht weiter. Seine "Liese" lahmte, er wollte umkehren. Die
drei Pferde hatte er vorsorglich hinter der Wirtschaft auf der Weide angebunden,
aber das jüngste Pferd, der "Rainer", hatte sich losgerissen
und kam plötzlich auf den Hofplatz getrabt. Im Nu waren die Russen
da und holten nicht nur den Hengst, sondern auch die beiden Stuten von
der Weide. Flehentlich hatte Herr H. gebeten, ihm wenigstens ein Pferd
zu lassen, aber da gab es nichts. Mit dem Ochsen und einem Pferd, das
herrenlos im Stall gestanden hatte, sind wir dann nachmittags wieder auf
den Heimweg. Das war ein trauriger Zug durch das Giersdorfer Tal herab.
Daß wir da nicht mehr von Russen belästigt wurden, wundert
mich noch heute. Aber die räuberten erstmal die vielen Bauernhöfe
am Wege aus.
Von Hausdorf aus rauf zu war es nun auch schon wieder Abend geworden.
Da kamen immer wieder Leute aus den Häusern, die uns von den Geschehnissen
der vergangenen Nacht berichteten. In Neugericht hörten wir das erste
Mal von dem tragischen Tod der Familien B.-J. und K.. Zu unseren eigenen
Sorgen hat uns das zutiefst erschüttert. Bei der Täubermühle
wurden wir endgültig aufgehalten. Die Leute beschworen uns immer
wieder, nicht ins Dorf hinaufzugehen, da wäre der Teufel los. So
sind wir beim "Loch-Piefel" geblieben, die in aller Eile auf
einem Boden Stroh aufgeschüttet haben, auf dem wir dann die Nacht
verbrachten. Wir waren inzwischen etwa 20 Personen. Am anderen Morgen
haben wir dann den letzten Rest unserer Odyssee hinter uns gebracht.
In unserem Haus waren Günter M. und Rosel H. zurückgeblieben,
die versucht hatten, die Stellung zu halten. Drin gewesen waren die Russen
auch, die Kartoffelschalen kamen mir auf der Treppe schon entgegen. Alles
war wild durcheinander, aber direkt gefehlt haben uns nur Kleinigkeiten.
Meine Schwägerin Lenchen hingegen konnte ihre Matratzen schon auf
dem Weg nach Wilhelmstal von der Straße auflesen. Bei ihr hatten
sie ebenfalls gekocht, die Einweckgläser kaputtgeschmissen und alles
verschmiert. Bei H.s hatten sie vor allem nach Korn gesucht, aber den
hatte Herr H. vor seinem Weggang in den Bach laufen lassen. Zwar wollten
die Dortleute ihn verantwortlich machen für die Orgie, die nachts
im Dorf stattgefunden hatte, als die Russen sturzbetrunken gehaust hatten,
aber ihn traf keine Schuld; den hochprozentigen Alkohol hatten sie im
Keller der Apotheke gefunden. Das mag wohl auch der endgültige Auslöser
für den Selbstmord der Apothekerfamilie gewesen sein.
Das Leben ging weiter, auch für uns. Nur das Wie, das ist wieder
eine Geschichte für sich.<<