Eulengebirge - Weberland im Eulengebirge

von Günter Elze

 

n den Dörfern, die sich im Waldenburger Bergland und im benachbarten Eulengebirge kilometerlang an den Bachläuten hinaufschlängeln, sind die bescheidenen Weberhäuschen mit den steilen, tief heruntergezogenen Dächern und den winzigen Fensterchen häufiger anzutreffen als große Bauernhöfe. Der Weberaufstand hat das Schicksal dieser bescheidenen Menschen in ganz Deutschland bekannt gemacht. Ihre verzweifelte Not wird noch heute immer wieder als Beispiel für die Ausbeutung durch den frühen Kapitalismus angeführt. Wie konnte es dazu kommen, da doch die Wohlhabenheit vieler schlesischer Kleinstädte auf ihrer Tuch und Leinenproduktion beruhte und schlesische Webwaren jahrhundertelang ein begehrter Exportartikel waren?

Im Mittelalter war die Tuch- und Leinenweberei wie jedes andere Handwerk auch, den städtischen Zünften vorbehalten. Sie wachten über Produktion und Verkauf. Man stellte nur so viel her, wie man selbst in der Stadt und in der näheren Umgebung verkaufen konnte. Innerhalb der Bannmeile um die Stadt durfte es in den Dörfern keine Konkurrenz geben. Zwar gingen auch in den Dörfern Webstühle, doch was dort fertiggestellt wurde, diente nur dem Eigenbedarf oder mußte für den Gutsherrn angefertigt werden.

 

Weber im Eulengebirge

as änderte sich, als - erstmals zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges - eine neue Stoffart auftauchte und rasch sehr begehrt wurde: "Mesolan". Der Name ist eine Verballhornung des italienischen "mezzo lana", also Halbwolle. Es war ein Wollstoff, der zur Hälfte aus Baumwolle gewebt wurde. Trotz der großen Nachfrage zeigten sich die Zünfte halsstarrig. Sie wollten mit dem neumodischen Zeug nichts zu tun haben, "weil zuvor hier nicht bräuchlich", beharrten auf ihren strengen Zunftregeln und weigerten sich, den neuen Stoff herzustellen. Die Folge war, daß die Tuchmacherzunft in Reichenbach am Ende des 17. Jahrhunderts fast ganz ausgestorben war. Der Wollhandel hatte sich nach anderen Lieferanten umgesehen, die es weniger genau nahmen. Er fand sie bei den Hauswebern auf dem Lande. Das war der Anfang der Weberei in den Dörfern des Eulengebirges.

 

asch entwickelte sich eine blühende Hausindustrie, die einen hübschen Nebenverdienst abwarf. Die Landwirtschaft war auf den steilen Hängen und bei den lang anhaltenden Wintern immer ein mühseliges und risikoreiches Unterfangen. Nun erlaubte es der scheinbar sichere Zusatzerwerb durch die Weberei, Bauernhöfe im Erbfall aufzuteilen und sich mit immer weniger Ackerboden zu begnügen. Das ging auch lange Zeit gut, denn Tuche und Leinen aus den schlesischen Bergen waren zu einem begehrten Handelsartikel geworden. Der Tuchhandel verhalf den Städten des Gebirgsvorlandes zu Wohlstand. Reichenbach wurde ein Zentrum des Wollhandels. Waldenburg, das lange Zeit kaum mehr gewesen war als ein großes Dorf, verdankt seinen Aufstieg zum Mittelpunkt des umgebenden Berglandes ausschließlich seinen Tuch-Kaufherren.

 

Schlesische Webwaren waren begehrt bis tief hinunter auf den Balkan, sie fanden Absatz in Polen und weit hinein nach Rußland. Ungarische Händler tauchten im Eulengebirge auf, um gleich an der Quelle einzukaufen; Großkaufleute aus Süddeutschland und den Niederlanden begründeten in Schlesien Niederlassungen für den Wollhandel. Die Weber waren geradezu umworben und erzielten auskömmliche Erlöse für ihre Ware.

Doch die Gunst der Stunde währte nicht lange. Bald verhinderte das Vordringen der Türken den Verkauf nach Südosten. Als August der Starke Polen und Sachsen unter seinem Zepter vereinte, fiel der polnische Markt aus. Rußland war nach der Gründung Petersburgs nicht mehr auf Importe über den Landweg angewiesen, sondern bevorzugte nun die nordischen Länder. Die schlesischen Weber verloren ihre wichtigsten Absatzgebiete.

war nutzten findige Kaufleute die Eröffnung des Friedrich-Wilhelm-Kanals zwischen Oder und Elbe, um neue Absatzmärkte in England, den Niederlanden und sogar in Übersee zu erschließen, aber den Webern half das nicht viel. Sie waren nun in einer frühen Form des Kapitalismus dem Preisdiktat der Händler ausgeliefert. Obwohl Besitzer des "Produktionsmittels", waren sie doch ganz abhängig vom Geldgeber. Schon früh hörte man die später nicht mehr abreißenden Klagen, daß die Kaufleute schlechtes Garn lieferten, beim Abmessen betrögen und danach die Qualität der fertigen Ware monierten.

 

Noch hatten die Weber ihr bescheidenes Auskommen. Welche Bedeutung der Leinen- und Wollweberei noch immer zukam, zeigen die Einnahmen der kaiserlichen Kasse, die allein aus Reichenbach 8000-10000 Reichstaler an Zoll für Webwaren einstreicht. Als die Preußen in Schlesien einrückten, wurden die Weber sogar vom Wehrdienst befreit mit der Begründung, ein arbeitender Weber bringe dem Staat so viel ein, wie ihn drei Soldaten kosteten!

Als aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch der Verkauf nach England und Übersee zusammenbrach, zog in den Weberdörfern bittere Not ein. 1793 kam es zu ersten Unruhen. Militär mußte die Ordnung wiederherstellen, und der Staat wußte keine bessere Abhilfe, als Lebensmittel zu verteilen und Notstandsmaßnahmen anzuordnen. Die Weber sollten beim Straßenbau ihr Brot verdienen. Aber die hatten weder die körperliche Kraft noch geeignetes Schuhwerk und wetterfeste Kleidung für so schwere Arbeit im Freien.

 

Man muß sich einmal vergegenwärtigen, daß der Weber damals für seine tägliche Arbeitszeit von 12-14 Stunden wöchentlich 7 1/2 Silbergroschen erhielt. Das war der Gegenwert von 3 1/2 Pfund Brot! Dazu hatte er die Kosten für seine Gerätschaften, für Heizung und Licht selbst aufzubringen. Es war eine armselige und kleine Welt, in der weder die Weber noch die Händler - zumeist waren es ja nur kleine städtische Krämer - über ihren engsten Umkreis hinausblickten. Keiner erkannte, was allein Hilfe gebracht hätte: aufgeschlossen zu sein für neue Produktionstechniken und die Erfordernisse des Marktes. Dazu hätte die Kaufmannschaft ihren Webern Ausbildung, Kredite und ausreichende Entlohnung bieten müssen. Statt dessen nutzten selbst die größeren Häuser die niedrigen Löhne dazu, billig anzubieten. Sie drückten sogar weiter auf die Entlohnung, wenn der Absatz stockte.

 

Auf Hunger und Not dem Herrn ausgesetzt
Auf dem ölgemälde von 1844 verweigert ein Fabrikant die Annahme von Stoffen wegen angeblicher Qualitätsmängel. Für die schlesischen Lohnweber hängt vom Verkauf ihrer Produkte ab, ob sie etwas zu essen haben. (Quelle Bild: Stern Ausgabe 11/2006)


ber gerade in dieser Zeit des beginnenden Weberelends entstanden in den Städten die schönen Barockhäuser der Tuchhändler. Sprichwörtlich wurde der Luxus der Hirschberger "Schleierherren", über deren protzige Grufthäuser auf dem Friedhof Friedrich der Große seine spitzen Bemerkungen machte. In Waldenburg baute die Familie Töpfer am Ring ihr "Ankerhaus", das zum Zeichen der weltweiten Verbindungen dieses Handelshauses auf dem Dach einen riesigen Anker trägt. Er ist noch heute ein seltsames Wahrzeichen Waldenburgs geblieben.


Am Spulrad


In Napoleonischer Zeit bringen die Kontinentalsperre und hohe Schutzzölle in den Vereinigten Staaten den Export des schlesischen Leinens fast völlig zum Erliegen, auf der anderen Seite beginnen nun in England die ersten mechanischen Spinnereien und Webereien so billig zu arbeiten, daß die schlesische Handarbeit damit nicht mehr Schritt halten kann. Während aber bald schon im Rheinland eine zeitgemäße Textilindustrie entsteht, glaubt man in Schlesien gar, mit noch geringerer Entlohnung und noch längerer Arbeitszeit den Wettlauf mit der Maschine bestehen zu können! Da hilft es wenig, wenn in Waldenburg ein fortschrittlicher Unternehmer, der Leinenhändler Johann Gustav Alberti, die erste mechanische Spinnmaschine auf dem Kontinent selbst konstruiert und 1818 die erste vollmechanische Spinnerei in Betrieb nimmt. Es dauert noch einmal fast 20 Jahre, ehe in Freiburg Karl Friedrich Kramsta als nächster seine Fabrikation auf Maschinenbetrieb umstellt. Die englische Konkurrenz war damit nicht mehr einzuholen.


Das Elend der schlesischen Weber wurde so unerträglich, daß sich die Erbitterung endlich Luft schaffen mußte. Trotzdem bleibt es erstaunlich, wie sich die ausgehungerten, während vieler Generationen an die Not gewöhnten Weber plötzlich zur Tat aufrafften. In seinem Schauspiel "Die Weber" hat Gerhart Hauptmann, der ja die Menschen seiner Heimat so gut kannte, überzeugend geschildert, wie bitterster Hunger diese noch immer genügsamen und obrigkeitshörigen Menschen zum Aufstand trieb. Eine besondere Rolle spielte dabei das Weberlied.

 

DAS BLUTGERICHT

Hier im Ort ist ein Gericht
Noch schlimmer als die Feme,
Wo man nicht erst ein Urteil spricht,
Das Leben schnell zu nehmen.

Hier wird der Mensch langsam gequält,
Hier ist die Folterkammer,
Hier werden Seufzer viel gezählt
Als Zeugen von dem Jammer.

Ihr Schurken all, ihr Satansbrut,
Ihr höllischen Dämone,
Ihr freßt der Armen Hab und Gut,
Und Fluch wird Euch zum Lohne.

Ihr seid die Quelle aller Not,
Die hier den Armen drücket,
Ihr seid's, die ihm das trockne Brot
Noch von dem Munde rücket.

 

it diesem Lied auf den Lippen zog eine Handvoll Weber am 3. Juni 1844 vor das Haus des Fabrikanten Zwanziger - bei Hauptmann heißt er Dreißiger - und forderte mehr Lohn. Selbst als Zwanziger einen der Leute ergreifen ließ und der Polizei übergab, blieb noch alles ruhig. Aber am nächsten Tag rottete sich eine noch größere Menge vor Zwanzigers Haus zusammen und begann ohne lange zu fackeln, die Fenster einzuwerfen und ins Haus einzudringen. Zwanziger und seine Familie flohen. Das Haus wurde ausgeplündert, und nun marschierte die Menge, ratlos, aber vom Erfolg angestachelt, nach Langenbielau weiter. Dort griff Militär ein, schoß in die Menge, es gab 13 Tote und viele Verwundete.


Hausweberei mit Webstuhl, Spinnrad und Spulrad

Damit war der Aufstand schon vorbei. Man wundert sich heute, welch ungeheures Aufsehen dieses Ereignis von kaum zwei Tagen Dauer in der öffentlichkeit erregt hat, und man wundert sich noch mehr, wie gering seine Auswirkungen waren. Am Los der Weber änderte sich zunächst so gut wie gar nichts. Hatte Oberpräsident von Merckel schon zuvor in einem Bericht nach Berlin die Lage völlig verkannt, als er feststellte: "Ein allgemeiner Notstand hat sich bei den Webern jener Gegend keineswegs eingefunden", so bekannte er nach dem Aufstand gegenüber einer Deputation der Weber seine völlige Hilflosigkeit: "Er bedauere, daß der Weberlohn hier und da herabgedrückt werde, doch könne er dagegen nichts tun. Lange der Weberlohn gar nicht mehr zu, so müsse der Arbeiter eben auf andere Weise sein Brot suchen!" Tatsächlich geschah von Regierungsseite gar nichts, der unternehmerischen Willkür irgendwelche Schranken zu setzen. Die üblichen Notstandsmaßnahmen blieben wirkungslos. Erst 15 Jahre später setzte die Industrialisierung ein. In Langenbielau und Peterswaldau entstanden die ersten Textilfabriken. Sie sicherten den Webern ein regelmäßiges Einkommen und soziale Betreuung.

Der Weber wurde zum Fabrikarbeiter und lernte, seine Forderungen notfalls auch durch Streik durchzusetzen. Das traditionsreiche Weberhandwerk aber starb aus. Kaum jemand war noch bereit, das wenig einträgliche Gewerbe fortzuführen. Im 20. Jahrhundert wurde versucht, die alte Tradition noch einmal zu beleben, der Hausweberei als kunstgewerblicher Handarbeit wieder Freunde zu gewinnen. So hörte man dann doch wieder hie und da einen Webstuhl klappern.

 

Für uns klang das alles vor fünfzig Jahren wie ein Lied aus längst vergangenen Zeiten. Das Eulengebirge lockte im Sommer zum Wandern, im Winter zum Schifahren und Rodeln. Aus dem Notstandsgebiet, dessen Leiden ganz Deutschland bewegt hatte, war ein blühendes Land geworden. Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe ergänzten sich, und der Fremdenverkehr brachte zusätzliche Verdienstmöglichkeiten noch in die entlegensten Dörfer. Den Weberhäuseln schaute nicht mehr die Not aus den blankgeputzten Scheiben. ...

 

Quelle: "Mittelschlesien in Farbe", Günter Elze, Bechtermünz Verlag, 1996