Vertreibung:
Polenzeit und Vertreibung
Erinnerungen einer Zeitzeugin:
>>Nun begann die große Hungerszeit. Das war das
Schlimmste von allem. Wer nicht erlebt hat, wenn Kinder hungern müssen
und man ihnen einen gefundenen Apfel wegnehmen muß, weil daraus eine
Soße gekocht werden konnte, soll auch nicht darüber reden. Mit
Freude brachten mir die Kinder eine im Bach gefundene Kartoffel, sie wurde
zum Hauptbestandteil einer Mahlzeit. All das vergesse ich mein Lebtag nicht.
Damals habe ich viel Pilze, Holz und Tannenzapfen aus dem Wald geholt. Als
hätte die Natur unsere Not erkannt; es gab besonders viele Pilze.
Wir sahen nun, daß die Besitzergreifung Schlesiens durch die Polen
mit Konsequenz und Brutalität betrieben wurde. Ein endloser Zug Deutscher,
es hieß aus Ludwigsdorf und anderen Dörfern, eskortiert von berittenen
Polen, zog durch Wüstewaltersdorf, die ganze darauffolgende Nacht saßen
wir im Haus zusammen, beratschlagten und jammerten. Es war die Zeit der
sogenannten "wilden Vertreibung". Allerdings zeichneten sich die
späteren, mit den Alliierten mehr oder weniger abgestimmten Transporte,
auch nicht gerade durch Humanität oder gar gute Organisation aus. In
dieser Zeit der "wilden Vertreibung" waren es in erster Linie
die Bauern, die betroffen waren, da den aus Galizien nachrückenden
Polen sicher Ausgleich für ihre verlorene Heimat und Höfe versprochen
wurde. Das war auch der Hauptgrund für die große Hungersnot.
Aber auch andere Gründe für die besonders ausufernde Willkür
in dieser Zeit, kurz nach Kriegsende, gab es. Ich erinnere mich an die vielen
willkürlichen Hausdurchsuchungen: Drei Mann Miliz, mit schußbereiter
MP, zwei oder drei Mann in Zivil, am Schluß wieder zwei Mann Miliz.
Wenn z.B. eine Wohnung begehrenswert war, so "fand" man eine Eierhandgranate
und die Familie wurde sofort ausgewiesen. In dieser Zeit wurden wir auch
mit vielen anderen Dorfbewohnern aus den Häusern gejagt.
Die Gerüchte, die umgingen, übertrafen sich an Schreckensvisionen:
Es geht nach Polen, Rußland oder gar Sibirien zum Arbeiten oder um
in den Tod getrieben zu werden, wir werden von den Kindern getrennt usw.
Ich nahm den Leiterwagen, habe ein Kissen reingelegt, die Kinder und eine
Tasche oder Rucksack eingeladen und bin auch zum Hacketeich gefahren, wo
wir uns sammeln mußten. Dort bin ich mit den anderen angetreten. Lange
haben wir gestanden. Da hieß es plötzlich, die Frauen, deren
Männer in der Fabrik gearbeitet hätten, bekämen eine Bescheinigung
und könnten hierbleiben. Ich los mit dem Leiterwagen, den Hanischberg
hinauf zum Fabrikbüro. Polen riefen uns etwas nach, es wurde auch geschossen,
ich habe mich nicht umgesehen. Ich bekam tatsächlich die Bescheinigung!
Erleichtert zogen wir das kleine Gäßchen, hinter unseren Hausgärten,
an der Fabrik entlang, nach Hause. Unser Hof wurde von der Fabrik begrenzt.
In diesem Teil des Fabrikgebäudes gab es kleine Nebenräume, die
aber eine Tür zu unserem Hof hatten. Diese Räume wurden z. T. von
Hausbewohnern genutzt zur Kaninchenhaltung oder als Schuppen. Frau F. und
.s steckten mich mit den Kindern in so ein Schüppchen ohne Fenster.
Wir haben den ganzen Tag drin zugebracht und das war gut so. Wahrscheinlich
hatten es die Polen auf meine Wohnung abgesehen, denn sie erschienen schon
wieder und fragten Hausbewohner nach uns, ganz dicht vor unserer Tür.
Erschrocken war ich, als unsere Landsleute auskunftswillig meinten: "Die
müssen noch hier sein, wir haben sie nicht fortgehen sehen". Welche
Angst ich ausgestanden habe, daß sich die Kinder verrieten, kann man
sich wohl denken. Noch einmal wurden wir in Angst und Schrecken versetzt.
Wir sollten wieder rausgeschmissen werden. Da ich die Bescheinigung hatte,
ignorierte ich die Aufforderung, blieb zu Hause und schloß uns ein.
Unsere Wohnung hatte keinen Korridor. Durch eine Doppeltür gelangte
man direkt in die Küche. Von der Küche ging es dann links ins
Wohnzimmer, rechts ins Schlafzimmer. Nach einer Weile donnerte es an die
Wohnungstür. Ich hatte mich mit den Kindern im Wohnzimmer auf ein Fell,
das vor dem Büfett lag, gesetzt. Wir rührten uns nicht. Das Wummern
an der Wohnungstür hörte nicht auf, bis die Doppeltür nicht
mehr standhielt und krachend und splitternd barst. Dann schlug jemand die
Türfüllung zum Wohnzimmer mit einer Axt entzwei. Der Pole kam
durchgestiegen und stand mit erhobener Axt vor uns und brüllte: "Raus,
raus, raus!". Edith schrie entsetzlich vor Angst. Ich stand auf, der
Pole schrie weiter sein "Raus, raus", setzte die Kinder auf den
Küchentisch, um ihnen die Schuhe anzuziehen. Da kam ein anderer Pole.
Der erste war hinausgegangen. Ich zeigte ihm die Bescheinigung, worauf er
überraschend sagte: "Gut, bleiben". Diese Schreckenstage
sitzen fest im Gedächtnis und sind schuld an manch schlafloser Nacht.
Im Spätsommer oder Frühherbst 1945 bekam ich Einquartierung, einen
Polen, er hieß Peter Lesch und war aus Krakau. Er wurde von einem
anderen Polen begleitet, der ihn mir als "Leiter" vorstellte.
Ich nehme heute an, er war in der Kommunalverwaltung von Wüstewaltersdorf,
die auch hier, wie andernorts, von den Polen übernommen wurde, angestellt.
Wir organisierten mit Frau F.s Hilfe ein Bett, das wir im Wohnzimmer aufstellten.
Darin schlief er, manchmal auch mit seiner Braut, einer sehr stark geschminkten
Polin. Für uns blieb nun das Schlafzimmer als Wohnraum. In der Küche
aßen wir gemeinsam. So war ich Dienstmädchen in meiner eigenen
Wohnung, mußte für ihn kochen, waschen und saubermachen. Das
Positive an dieser Situation war, daß wir von seiner Lebensmittelzuteilung
etwas abbekamen. Später sogar von den Care-Paketen, die ja auch an
die Polen geschickt wurden. Was wir bis dahin immer so aßen, versah
Herr Lesch mit dem Ausspruch: "Das ist für Kuh". Irgendwo
hatte ich ein Plakat gelesen, daß unser Hab und Gut Eigentum der polnischen
Regierung sei. Herr Lesch sah sich auch als Eigentümer meiner Sachen
an. Als ich meine silbernen Kuchengabeln (ein Hochzeitsgeschenk meiner Cousine
Hedel) versetzt hatte, bekam ich große Vorhaltungen. Ansonsten redete
er mir wenig drein. Er merkte wohl auch, daß das vollkommen überflüssig
gewesen wäre. So lebten wir also dahin, immer in Sorge. Wie lange geht
es noch so? Wie wird es weitergehen?
Im Frühjahr und Sommer 1946 liefen dann die "planmäßigen"
Evakuierungsaktionen an. Zuerst betraf es die Bauern. Soweit sie noch in
ihren Wohnungen waren, konnten sie mitnehmen, was sie tragen konnten. Verbote
mußten beachtet werden (Dokumente, Maschinen und elektr. Geräte
u.v.a.). Mein Pole hatte mich reklamiert, so war ich zunächst nur Beobachter
dieses großen Dramas des deutschen Ostens. Als dann der fünfte
Treck losging, hätte ich wieder eine Verlängerung bekommen können.
Es war Frau F., die mir klarmachte, daß wir dann Polen werden müßten,
die Kinder hätten dann die polnische Schule zu besuchen! Das gab den
Ausschlag! So ging es am 18. August 1946 mit den meisten, der noch verbliebenen
Einwohner von Wüstewaltersdorf, los. Wir sammelten uns wieder auf dem
Hacketeich. Kinder und alte Leute wurden gefahren. Ein rasanter Pole wollte
meine Kinder aber vom Wagen runterschmeißen, da habe ich auf deutsch
losgelegt und sie obengelassen. Jedenfalls zog er weiter, vielleicht hatte
er es verstanden. Ich konnte meinen Leiterwagen, mit einem Bettsack (zwei
Oberbetten, zwei Kopfkissen und eine Kinderzudecke), einem Kleider- und
Schuhsack, einem Koffer mit den letzten Lieblingsstücken und einer
Tasche mit etwas Verpflegung, an einen der Pferdewagen anhängen. Die
begleitenden Polen wollten ihn noch in Wüstewaltersdorf wieder abhängen.
Ob ich mich auf Lesch berief oder schimpfte oder weinte, das weiß
ich heute nicht mehr. Jedenfalls durfte ich ihn angehängt lassen, sonst
hätte ich wohl bloß die Lebensmitteltasche fortgebracht. Ich
muß immer wieder sagen, Menschen, die dergleichen nicht erlebt haben,
sondern in sicherer Ferne saßen, sollten dazu am besten schweigen.
Sich auch nicht so wundern, daß Flüchtlinge so wenig besitzen.
Wir haben später viel Ungerechtigkeiten hören aber auch erdulden
müssen. Wobei es, wie überall, gute und schlechte Mitmenschen
gibt.
Das Ziel unseres Trecks war die große Schule in Waldenburg-Altwasser,
die als Sammelpunkt diente. So zogen wir denn los durch Neugericht, Richtung
Hausdorf, Waldenburg. (Wir sollten unser Wüstewaltersdorf erst 1964
einmal wiedersehen, als Besuche wieder möglich wurden.) Es ist eine
Strecke von ca. 18 km, meist bergig, bis Waldenburg. Als wir gegen Abend
dort ankamen, goß es in Strömen.
Wir standen vier Stunden auf
dem Schulhof, bis für die Neuankömmlinge Platz geschaffen war.
Unsere Sachen wurden triefend naß und bleischwer. Wir halfen uns gegenseitig,
Frau F., Frau W. und die Schwägerinnen von Frau F., das Gepäck
hineinzuräumen. Ich glaube, bis in den 3. oder 4. Stock. Wir schliefen
im Flur in und auf unseren nassen Sachen und das zwei Nächte. Dann
ging es los! Vorher durch die Kontrolle, d.h., das Beste und Schönste
von dem Wenigen, was wir noch besaßen, wurde uns auch noch weggenommen.
Ich büßte dabei meinen Koffer mit dem gesamten Inhalt ein. Es
waren die letzten Andenken und einige Lieblingsstücke, an denen ich
besonders hing. Sehr schmerzlich, der Verlust aller Fotoalben, die ich immer
gehütet hatte, wie meinen Augapfel. Ursache war eine im Koffer befindliche
Kristallschale, was verboten war (oder auch nicht). Wolfgang trug auf seinem
Rücken ein Rucksäckel mit meinem Besteck, obenauf Brot, in der
Hand eine Milchkanne mit Kaffee. Die Kanne ließ er in der Aufregung
stehen. Den Rucksack ließ man ihm.
Unser Gepäck schichteten wir an den beiden Stirnseiten auf, es war ja noch ganz naß. Wir Erwachsene saßen und lagen dazwischen, die Kinder auf dem aufgetürmten Gepäck. So fuhren wir drei Tage in Richtung Westen. Die erste Station war Kohlfurt, wo wir mit Insektengift vollgeblasen "entlaust" wurden. Meines Wissens hatte von uns keiner Läuse. <<
Quelle: Bilder dolny-slask.org.pl