Vertreibung:
Zeit unter der polnischen Verwaltung
Erinnerungen einer Zeitzeugin:
>>Nachdem die Fabrik von der Wachmannschaft der russischen
Kommandantur, die im Kasino ihren Sitz hatte, bewacht und kontrolliert wurde
und die leitenden Posten in der Firma von Polen besetzt waren, wurde in
der Fabrik wieder gearbeitet. Die kaufm. Angestellten arbeiteten in den
Büros, in der Weberei und anderen Abteilungen waren die Arbeiter wieder
an ihrem Arbeitsplatz. In den ersten Tagen wurde zum großen Schrecken
der Belegschaft der Generaldirektor verhaftet und ein Abteilungsleiter.
Russen waren mit einem Lkw gekommen und verhafteten auch noch unseren Bürgermeister,
den Amtsvorsteher und zwei weitere (..). Alle wurden auf dem Lkw in brutaler
Weise abtransportiert und keiner wußte, wohin diese Männer wurden.
Im Dorf gab es in den Geschäften nichts mehr zu kaufen, es war große
Not unter der Bevölkerung. Alle, die in der Fabrik ihre Arbeit wieder
aufgenommen hatten, bekamen von den Russen Lebensmittelzuteilung. Mein Vater
war für die Ausgabe der Lebensmittel bestimmt worden. Nach meinem Abschluß
an der Fachschule für Textil-lndustrie zu Langenbielau kurz vor Kriegsende
war ich nun ohne Beschäftigung und meinem Vater war es gelungen, mich
als Webereipraktikantin in der Firma unterzubringen.
Vom 1. Juni 1945 bis 31. Mai 1946 habe ich dann als Praktikantin in der
Weberei gearbeitet und bekam dadurch auch meine Lebensmittelzuteilung. Durch
die doppelte Lebensmittelration waren wir in der Lage, auch den Mitbewohnern
in der "Erholung" Lebensmittel abzugeben. Wir versorgten so gut
wir konnten Frau T. mit ihren 4 Kindern, den alten Herrn L. mit seiner Frau,
denn alle, die keine Arbeit in der Fabrik hatten, wußten nicht, wie
sie zu ihrem täglichen Brot kommen sollten. Jede Woche fuhren wir mit
dem Lkw nach Waldenburg ins russ. Verpflegung-Depot und holten unsere Wochenrationen
ab. Wir bekamen zugeteilt: Brot, Kartoffeln, Hülsenfrüchte, Öl,
braunen Zucker, manchmal auch Fleisch. Alles wurde abgewogen, mein Vater
rechnete die Portionen aus und einige Frauen und ich waren für die
Ausgabe an die Belegschaftsmitglieder zuständig.
Die Firma nannte sich jetzt: PANSTWOWE ZAKLADY LNIARSKIE "WAWEL".
Auf manchen Firmenstempeln stand nach darunter "d. Websky, Hartmann
& Wiesen A.G.".
In der Weberei wurde jetzt für die Russen Uniform-Köper hergestellt,
ab Frühjahr '46 Taschentücher gewebt; auch 1 oder 2 Jacquarwebstühle
wurden in Betrieb genommen. Wir arbeiteten in 3 Schichten. In jeder Schicht
wurden wir von der russ. Wachmannschaft kontrolliert. Ich sehe noch heute
den kleinen Mongolen mit seiner umgehängten Maschinenpistole auf dem
Fahrrad in den großen Webereisaal kommen. Er hatte wohl noch nie ein
Fahrrad in der Hand gehabt, denn ständig flog er mit dem Fahrrad um
und seine Maschinenpistole knallte zu Boden. Aber unverdrossen stieg er
immer wieder auf das Fahrrad. Von der Wachmannschaft ist mir auch der Andre
noch gut in Erinnerung.
Er war ein wilder Bursche, meistens betrunken und unberechenbar. Unser Pförtner
hatte seine Not mit ihm. Er drohte zu gerne mit seiner Pistole und schoß
auch in der Gegend herum, einmal hat er sogar im Pförtnerhaus im Beisein
von unserem Paul H. in die Decke geschossen.
Zuhause hatten wir auch Einquartierung bekommen, wir waren wohl mit unter
den ersten Familien. 2 bewaffnete Milizionäre quartierten bei uns den
Direktor der Fabrik ein. Wir wohnten ja ganz nahe an der Fabrik, was dem
Polen wohl gefiel. Seinen Namen weiß ich nicht mehr. Er wollte in
unserem Wohnzimmer wohnen und er verlangte noch 1 Bett, einen Schrank und
eine Waschgelegenheit, den Wohnzimmerschrank konnten wir räumen. Er
hat sich auch uns gegenüber immer korrekt verhalten, sprach gut deutsch;
er hatte in Deutschland studiert. Nach kurzer Zeit kam seine Schwägerin
aus Warschau, sie war seine Sekretärin in der Firma, und schlief auf
der Couch. Als einige Wochen vergangen waren, kam dann noch die Schwester.
Nun wurde es aber zu eng bei uns und alle drei zogen in die weiße
Wiesenvilla. Meine Mutter hat dann die Hausarbeiten für sie übernommen.
Kurz vor Kriegsende bekamen wir die Familie F. als Nachbarn. Bevor Breslau
zur Festung erklärt wurde, flüchteten sie nach Wüstewaltersdorf.
Frau F. war Russin, ihr Mann war vor dem Krieg als Brückenbauingenieur
in Rußland tätig und sie heirateten dann in Deutschland. Frau
F. fürchtete sich schon vor den Russen, weil sie glaubte, man könnte
sie als Spionin ansehen. Und so kam es auch! Am Tage und in der Nacht kamen
die russischen Soldaten ins Haus und holten sie zum Verhör ab, sie
wurde furchtbar drangsaliert und- es dauerte lange Zeit, bis der Kapitän
ihr endlich glaubte. Sie wurde dann seine Dolmetscherin.
Immer mehr Familien wohnten jetzt zusammen, ständig kamen polnische
Familien in den Ort, sie fanden dann ihre Bleibe in den Wohnungen der auf
die Straße gesetzten Wohnungsinhaber. Auf die Straße zu gehen
traute man sich kaum. Wir durften nicht mit Dorfbewohnern im Ort ein Gespräch
führen, bei Einbruch der Dunkelheit war es verboten nach draußen
zu gehen. Die Werksangehörigen, die von der Nachtschicht nach Hause
gingen, hatten als Erkennungszeichen die weiße Armbinde mit dem Firmenstempel.
Immer wieder wurden Dorfbewohner abgeholt und von der Miliz in der Lütwitz-Villa
verhört, in den Kellerräumen eingesperrt und oft geschlagen, die
Schreie waren auf der Straße zu hören. Ein Bauer aus Grund konnte
sich dem Polen, der nun der Herr auf seinem Hofe war, nicht unterordnen
und bei jeder Auseinandersetzung erstattete der Pole Anzeige bei der Miliz.
Schwer von den Schlägen gezeichnet sah man ihn dann nach Hause gehen,
einmal hatte man ihm sogar den Arm gebrochen.
Irgend etwas geschah täglich. So hörte ich einmal lautes Geschrei
an der Hanischecke. Polen hatten einen Mann, der aus Reichenbach mit seinem
Fahrrad unterwegs war, vom Fahrrad gestoßen und ihm befohlen, seine
Stiefel auszuziehen. Er sträubte sich dagegen, aber die Stiefel wurden
ihm von den Füßen gezogen. Sein Fahrrad fand wohl kein Gefallen
und so mußte der arme Mann auf Socken seine Weiterfahrt antreten.
Auch in den Gasthäusern bestimmten jetzt die Polen und die Eigentümer
mußten für sie arbeiten. Die vorhandenen Säle verlockten
zum Tanzvergnügen, nur fehlten ihnen die eigenen Musiker. Für
einen Tanzabend im Deutschen Haus suchten sie einen Klavierspieler. Sie
hatten in Erfahrung gebracht, daß mein Vater früher in einer
Tanzmusikkapelle gespielt hätte. Mein Vater wurde aus der Wohnung geholt
und mußte im Deutschen Haus zum Tanze aufspielen. Diesen Tanzabend
hat mein Vater lange nicht vergessen! Es dauerte gar nicht lange, da waren
die ersten Tänzer betrunken. Von einem Tänzer wurde er aufgefordert
Walzer zu spielen. Kaum hatte er die ersten Takte gespielt, da wurde er
von einem anderen Tänzer aufgefordert aufzuhören und Tango zu
spielen. Mein Vater spielte also Tango und da kam auch gleich der Pole,
der den Walzer bestellt hatte und hätte meinen Vater bald verprügelt.
Auf jeden Fall gab es ein fürchterliches Hin und Her und bald war eine
große Saalschlacht im Gange. Mit Stühlen, Flaschen und Gläser
wurde geworfen, mein Vater flüchtete unter einen Tisch und konnte in
einem günstigen Moment der Schlägerei entkommen. Draußen
sah er noch wie ein Pole mit einem Messer im Rücken in den Bach gestoßen
wurde.
Von der Welt abgeschlossen, ohne jegliche Information, gab es natürlich
viele Gerüchte, die im Ort kursierten. Alle lebten in Angst, was der
morgige Tag bringen wird. Die ersten wilden Trecks waren wieder zurückgekehrt,
man wußte, welche Unmenschlichkeit den Vertriebenen widerfahren war.
Es wurde gemunkelt, bald gäbe es wieder Vertreibungen, wo Frauen von
den Kindern getrennt und die Männer nach Sibirien verschleppt werden.
Bei uns in der "Erholung" saßen die Familien am Abend zusammen
und von Frau F., der Dolmetscherin vom russ. Kapitän, erfuhren wir
dann schon einiges.
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