Vertreibung:
Beschreibung meiner Schulzeit von 1945 bis 1958
Bericht eines Zeitzeugen:
>> Die Schulzeit, wenn man sie für uns so nennen darf, verlief für viele deutsche Kinder in Schlesien nach dem Krieg und der Vertreibung ähnlich. Bis 1945 gingen wir in Wüstewaltersdorf zur Schule. Die Schulzeit endete für uns nach eineinhalb Jahren abrupt durch den verlorenen Krieg. Ab 1945, nachdem die ersten Polen in unser Dorf kamen, wurde für uns deutsche Kinder der Schulgang (d. h. die schulische Ausbildung) verboten.
Dieses Verbot wurde erst 1949/50 offiziell aufgehoben, nachdem deutsche Bergleute in Waldenburg bei den polnischen Behörden interveniert hatten und für ihre Kinder wieder deutsche Schulen (deutsche Ausbildung) verlangten. Das ging auch mit der Gründung der DDR einher. Denn bis dahin rechtlos, bekamen wir wieder Rechte zugestanden. Um nicht ganz Analphabeten zu werden, gingen wir in den ersten Jahren nach 1945, mit in einer Tasche verstecktem Bleistift und einem Heft ausgerüstet, heimlich in Privatunterricht. Unterricht gaben noch nicht vertriebene ehemalige oder schon pensionierte Lehrer. Aber in vielen Fällen auch Beamte oder einfache Leute, die es sich zutrauten, Kindern das Rechnen, Lesen und Schreiben beizubringen. Natürlich war das nicht ganz ungefährlich. Aber ich glaube sagen zu können, daß die Polen das Schulverbot für Deutsche nicht ganz so ernsthaft verfolgten. Mir ist jedenfalls kein Fall bekannt, bei dem jemand in Schwierigkeiten geraten wäre. Damit aber das Unterrichten nicht zu sehr auffiel, kamen dann später auch die Unterrichtenden oft privat ins Haus. Bei meiner Frau in Wüstegiersdorf war es ein pensionierter Oberpostinspektor, der die drei Kinder unterrichtete. Und da es keine Bücher gab, hatte dieser Mann den Kindern sogar eine handgeschriebene Grammatik angefertigt.
Eine kleine Begebenheit noch aus meinem Erleben. Wir, daß heißt drei bis vier Jungen, waren gerade im Stotko-Haus an der Bahn bei einer Familie - dessen Name mir entfallen ist - zum Unterricht. Als es an die Tür klopfte versteckten wir uns sofort, mit Heft und Bleistift in den Händen, in der Speisekammer. Das war alles vorher schon so abgesprochen worden. Erst als die Luft wieder rein war, wurden wir aus dem Versteck herausgeholt.
Der Vollständigkeit halber muß ich noch sagen, daß ich in Wüstewaltersdorf so um 1949 in die polnische Schule gegangen bin, bevor ich in Lehmwasser in die deutsche Schule eintrat.
Mein Vater sagte immer:" Hauptsache du lernst was und rechnen und schreiben ist das gleiche." Hier hatte ich allerdings auch einmal einen polnischen Lehrer, der mich wegen meiner deutschen Herkunft stark bedrängte. Sonst waren die Lehrer aber gut zu mir und außerdem wechselte ich dann in eine andere Klasse.
Ab 1950 wurden dann, wie schon zu Anfang gesagt, wieder deutsche Schulen eingerichtet. Sie entstanden immer dort, wo noch viele Deutsche lebten, also noch nicht vertrieben waren. Besonders im näheren Einzugsgebiet um Waldenburg. Daß hier noch viele Deutsche lebten hatte den Grund, daß sie in den Kohlengruben im Waldenburger Kohlenrevier gebraucht wurden. So gab es im Stadtgebiet von Waldenburg mehrere Schulen, z. B. in Waldenburg-Dittersbach, in Waldenburg-Zentrum (Auenschule), in Weißstein usw. - alle Orte sind mir nicht bekannt - auch eine im Glatzer Gebiet (Glätzisch Hausdorf). Unsere Schule, in die wir dann ab 1950 gingen, war in Lehmwasser bei Bad Charlottenbrunn. Es war eine Schule für den ländlichen Einzugsbereich. Die Kinder kamen in der Mehrzahl aus Lehmwasser, Bad Charlottenbrunn, Sophienau, Steingrund, aber auch aus Kynau, Hausdorf, Wüstewaltersdorf, Wüstegiersdorf, Wäldchen, Lomnitz bei Wüstegiersdorf, Tannhausen, Blumenau und anderen kleinen Orten.
Da die Kleinbahn von Wüstewaltersdorf zu dieser Zeit noch in Betrieb war, fuhr ich mit ihr jeden Morgen um 6.00 Uhr los. Später gingen auch meine jüngere Schwester Liselotte, und 2 weitere Kinder aus Wüstewaltersdorf in die Schule nach Lehmwasser.
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So hieß es also um 5.00 Uhr früh aufstehen. In Hausdorf mußten wir dann in den Zug, der von Schweidnitz nach Waldenburg über Bad Charlottenbrunn fuhr, umsteigen. Oft hatte dieser Verspätung, besonders jedoch im Winter.
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Als der Schulbetrieb so richtig zu Laufen begann, wurde auch ein Elternbeirat gebildet, denn die jungen Lehrer brauchten natürlich in dieser schwierigen kommunistischen Zeit, Entscheidungshilfen.
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Die Wege zur Schule waren auch nicht ohne Gefahren. Es kam vor, daß uns von polnischen Kindern aufgelauert wurde. Einmal ist ein deutsches Mädchen von Polenkindern mit Säure angespritzt worden, so daß es im Gesicht verätzt wurde und lange Probleme damit hatte. Gott sei Dank war das die Ausnahme
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Da das polnische Schulsystem ein anderes ist als das, was man hier bei uns kennt - so durchlaufen dort z. B. alle Schüler gemeinsam sieben Jahre Schulzeit und entscheiden sich erst dann für den Weg ins Gymnasium oder eine Berufsausbildung - mußten wir im letzten Schuljahr (1953) nach Waldenburg zur Schule. Da ein hin- und herfahren zeitlich noch schwieriger wurde, wohnte ich etwa drei Viertel des Schuljahres bei einer Cousine meines Vaters in Weißstein. Natürlich sagten wir Onkel und Tante. Da der Onkel Elektriker auf der Grube (Julius-Schacht) war und ganz gut verdiente, erging es mir ganz gut bei der Tante.
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In die Schule fuhr ich von Weißstein aus mit der Straßenbahn nach Waldenburg in die Auenschule, Nähe Schillerhöhe. Im unteren Teil bzw. Trakt war die deutsche Schule untergebracht. Wir hatten hier gut ausgebildete deutsche Lehrer.
Mein Weiterkommen habe ich hauptsächlich einem unserer Lehrer für Mathematik, Herrn Koppich, zu verdanken. Er war Studienrat (kriegsversehrt) und stammte aus Oberschlesien. Hier war er als Hauptlehrer eingesetzt und konnte perfekt polnisch in Wort und Schrift. Neben den normalen Fächern hatten wir auch politische Gemeinschaftskunde. Die deutschsprachige Zeitung „Die Arbeiterstimme", die ab 1950 in Breslau erschien, war hin und wieder das Thema dieser Unterrichtsstunde. Wir wurden daraufhingewiesen, diese Zeitung zu lesen. Einmal meldete sich ein Mitschüler und sagte ganz trocken und ohne sich was dabei zu denken mit seinem schlesischen Dialekt: "Frau Lehrerin, die Bergleute soon aber immer die Arbeiterstimme is aa Liigabloot (ein Lügenblatt)." Das war zuviel gesagt: Die junge deutsche Lehrerin meldete dies der polnischen Direktorin. Diese erschien dann in unserem Klassenzimmer und hat einen Scheinrabatz inszeniert und meinte dann zum Schluß, das dürfte nicht mehr vorkommen. Heute weiß ich, daß diese gebildete polnische Rektorin, im mittleren Alter, alles andere als eine linientreue Kommunistin war, denn sie hatte es geschafft, der Angelegenheit die Luft rauszunehmen.
Da ich auch sportlich immer ganz gut drauf war, wie man heute sagt, hatte ich auch gleich gute Kontakte zu meinen Mitschülern. Wir gingen im Winter gemeinsam Ski fahren, aber auch sonst wurde ich oft privat nach Hause zum Essen eingeladen, das hat mir viel geholfen. Ich hatte es auch hier bald zu einem der besten Schüler gebracht. Was mir eine Belobigung einbrachte und zwar in der Form, daß ich neben ein paar anderen deutschen Schülern aus anderen Klassen zu einer polnischen Schulfeier eingeladen wurde, die ich in guter Erinnerung habe. Ich muß noch ergänzen, daß ich zu diesem Zeitpunkt schon perfekt polnisch sprechen konnte. So ging hier die Schulzeit so langsam dem Ende entgegen und es stellte sich die Frage, was nun machen, wie geht es weiter?
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Ich hatte wieder Glück, denn mein, schon anfangs erwähnter, Mathematiklehrer sagte zu mir: "Helmut, in Reichenbach/Eule gibt es ein Rundfunktechnikum, dort solltest du dich bewerben." Ich war einverstanden. Er schrieb mir auch die Bewerbung und so nahm alles seinen Lauf. Ich bekam also zu entsprechender Zeit ein Einladungsschreiben von der dortigen Schuldirektion zur Aufnahmeprüfung. Es war aber ein rein polnischsprachiges Technikum. Zwar gab es auch z. B. in Schweidnitz ein deutschsprachiges Lehrerlyzeum und in Waldenburg deutschsprachige Bergmannsschulen, dies war aber nicht meine Richtung, da ich ja auch aus keiner Bergmannsfamilie stamme. Also ging ich im Sommer 1954 zu der Aufnahmeprüfung. gut vorbereitet worden.
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Da der Schulbeginn im Ostblock auf den 1. September gelegt ist, ging es also am 1. September 1954 in Reichenbach los. Die Schule war auf dem ehemaligen, aus dem Westen nach Schlesien ausgelagerten Telefunkengelände. Ich glaube, ich habe mich schnell in die neue Situation hineingefunden. Natürlich verlangte es von mir außergewöhnliche Anstrengung nun allen Fächern in polnischer Sprache zu folgen.
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Die Zeit verging sehr schnell und das Examen stand bevor. Die Prüfungen verliefen zufriedenstellend und ich konnte alles mit der Durchschnittsnote „Gut" abschließen. Ich war zufrieden. Nach Beendigung der Technikerschule bekam ich eine Anstellung bei den Rundfunkwerken „Diora" in Reichenbach. Die Höhe des Gehaltes richtete sich nach dem Prüfungsergebnis, so erhielt ich eine für die damaligen Verhältnisse gute Einstufung, welche nach heutigen Verhältnissen natürlich sehr bescheiden war. Für mein Anfangsgehalt konnte ich mir gerade eine neue Armbanduhr kaufen.
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Ich verstand mich mit den Leuten gut und als es zur Ausreise kam, wünschten mir alle viel Glück und vielleicht könnte ich, wenn es mir im Westen gutginge, dem einen oder anderen einen Wunsch erfüllen; man wußte ja, daß es im Westen einen höheren Wohlstand gab. Auch hier kannte man Deutschland „als goldenen Westen".
Am 12. Februar 1958 verließ ich für immer Wüstewaltersdorf. Mit einem Koffer, in dem das Notwendigste war, trat ich die Reise nach Westdeutschland an. Ich erinnere mich noch gut an die Verabschiedung von der Familie auf dem Wüstewaltersdorfer Bahnhof. Auch mir war es damals nicht bewußt, daß es für immer war. Erst 1973 hatten wir zum ersten Mal die Möglichkeit Schlesien, Wüstewaltersdorf und Wüstegiersdorf wiederzusehen.
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